Buchbeitrag
Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit – auch und besonders im Gesundheitswesen. Damit eine Neuausrichtung gelingt, muss Nachhaltigkeit gesamtgesellschaftlich und über alle politischen Ebenen hinweg vernetzt betrachtet werden. Um auch Bedürfnisse in der Gesellschaft zu berücksichtigen, hat die Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Projekts „Neustart!“ Bürger:innen aus ganz Deutschland in Bürgerdialogen nach ihren Vorstellungen für eine nachhaltige Gesundheitsversorgung gefragt. Hierbei wurde deutlich, dass besonders der Wunsch nach einem präventiven Gesundheitssystem besteht, welches nicht erst bei akuten Erkrankungen zum Tragen kommt, sondern bereits bevor diese auftreten.
Nachhaltigkeit heißt, die Menschen mit ihren körperlichen, geistigen und seelischen Bedürfnissen ernst zu nehmen.
Im folgenden Auszug aus dem Buchkapitel „Patientenorientierung – Ein zentraler Aspekt auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit“, sind einige konkrete Vorschläge zusammengetragen.
1.2. Die gesunde Handlung sollte im Alltag die einfachste sein
Das Management von lebensstilbedingten chronischen Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Adipositas, HerzKreislauf-Erkrankungen, Niereninsuffizienz und COPD beansprucht einen wachsenden Anteil am gesamten Versorgungsgeschehen. In gewisser Hinsicht gleicht unser Gesundheitswesen also immer mehr einem Wartungs- und Reparaturbetrieb. Vor diesem Hintergrund forderten die Bürger:innen, sich auf die ursprüngliche semantische Bedeutung des Begriffs Gesundheitssystem zu besinnen: Es muss darum gehen, ein System zu gestalten, in dem Gesundheit wirklich gefördert wird.
Ein Gesundheitswesen, das primär darauf ausgerichtet ist, das Fortschreiten chronischer Erkrankungen zu verzögern, wird niemals so gut sein wie eines, das die Entwicklung chronischer Erkrankungen von Vornherein verhindert.
Den wichtigsten Hebel für ein Gesundheitssystem sehen die Bürger:innen in der Verhältnisprävention. Von der Einführung einer Lebensmittelampel über die Verbannung von Süßigkeitenautomaten aus Schulen bis hin zum Ausbau von Radwegen sollte es den Menschen in ihrem Alltag so leicht wie möglich gemacht werden, eine gesunde Entscheidung zu treffen. Angesichts der mittlerweile deutlich spürbaren Auswirkungen des Klimawandels stellen aber beispielsweise auch die Errichtung von Trinkbrunnen bzw. Wasserzapfstellen an öffentlichen Orten oder die Ausschilderung von öffentlich zugänglichen klimatisierten Räumen verhältnispräventive Maßnahmen dar. Zudem spielt die virtuelle Sphäre eine immer größere Rolle. Das Internet ist zu einem zentralen Ort geworden, an dem Menschen sich über Gesundheit informieren. Umso wichtiger werden digitale Medien- und Gesundheitskompetenz, aber auch die Bereitstellung von verständlichen, leicht auffindbaren und wissenschaftlich fundierten Informationen durch Behörden und andere anerkannte bzw. explizit dafür zertifizierte Institutionen.
In diesem Zusammenhang wird das Konzept der Patientenorientierung also gleichsam auf die nächste Stufe gehoben: Sie muss dort ansetzen, wo ein Mensch noch gar kein Patient ist – im direkten Lebens- und Arbeitsumfeld.
1.3. Gesundheit in allen Politikbereichen
Dass sich das Gesundheitssystem mit der Prävention immer noch so schwertut, liegt zum einen daran, dass entsprechende Anreize fehlen. Verdient wird dort, wo Leistungen erbracht werden, und nicht dort, wo Leistungen vermieden werden. Zum anderen stoßen präventive Ansätze schnell an die Grenzen der politischen Ressorts. Der Ausbau von Radwegen fällt in das Ressort Verkehr, die Lebensmittelampel in den Verbraucherschutz und über das Schulfach Gesundheitserziehung müsste in den Kultusministerien der Länder entschieden werden. Hält man sich vor Augen, dass Faktoren wie Luft-, Wasser- und Lebensmittelqualität und soziale Determinanten wie Wohnbedingungen, Arbeitsbedingungen, Zugang zu Bildung, Zugang zu Versorgungsleistungen oder Frieden ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Gesundheit haben, wird schnell deutlich, dass Verhältnisprävention nicht allein über klassische gesundheitspolitische Instrumente gestaltet werden kann. So wie Ökologie und Klimaschutz Querschnittsaufgaben darstellen, die etwa die Ressorts Verkehr, Wirtschaft, Bildung, Landwirtschaft und viele weitere umfassen, so muss auch Gesundheit als gesamtpolitisches und gesamtgesellschaftliches Thema begriffen werden – und das über nationale Grenzen hinaus. Folglich muss der Ansatz, Gesundheit stets in allen Politikbereichen mitzudenken („Health in All Policies“), konsequent umgesetzt werden. Analog des Haushalts- und Klimavorbehalts sollten alle Gesetzesvorhaben auf ihre Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung überprüft werden.
„Je besser es der Umwelt geht, desto förderlicher ist das für die Gesundheit der Menschen.“
Bei aller Komplexität, die diese Ansätze in der Umsetzung mit sich bringen, lassen sie sich doch auf eine einfache Formel herunterbrechen: Je besser es der Umwelt geht, desto förderlicher ist das für die Gesundheit der Menschen. Umgekehrt heißt das: Nachhaltige Gesundheitsförderung wird sich immer auch positiv auf die Umwelt auswirken. Ein Beispiel soll diesen Zusammenhang veranschaulichen: Studien zeigen, dass Menschen in Großstädten häufiger unter psychischen Erkrankungen leiden als Menschen, die in ländlichen Regionen leben. Ein höherer Grünflächenanteil erhöht die Stressresilienz des Gehirns, während Feinstaub die Stressanfälligkeit des Gehirns erhöht. Die Reduzierung von Feinstaub durch besseren öffentlichen Nahverkehr, bessere Radwege und die Förderung von E-Mobilität sowie die Erhöhung des Grünflächenanteils in Großstädten zahlen sowohl auf das ökologische als auch auf das gesundheitliche Nachhaltigkeitskonto ein. Deutlich wird daran auch: Nachhaltigkeit entsteht nicht in Konkurrenz zueinander, sondern im vernetzten Miteinander.
In letzter Konsequenz bedeutet Patientenorientierung im Kontext von Nachhaltigkeit schlicht Menschenorientierung. Nachhaltig ist eine gesundheitsförderliche Umwelt, wobei Umwelt sowohl die physische Welt (Natur, Architektur etc.) als auch das gesellschaftliche Umfeld (Kultur, Gemeinschaft, Lebensbedingungen, Werte etc.) umfasst. Nachhaltigkeit heißt, die Menschen mit ihren körperlichen, geistigen und seelischen Bedürfnissen ernst zu nehmen.
Jetzt oder nie: Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen
Jürgen Graalmann (Hrsg.), Eckart von Hirschhausen (Hrsg.), Kerstin Blum (Hrsg.)
Die Klimakrise bedroht nicht nur Sicherheit und Wohlstand weltweit – sie ist auch die größte Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts. Lange wurden in der Diskussion um Klimaschutz weder die Gesundheitsfolgen der Klimakrise ausreichend betrachtet noch die wichtige Rolle des Gesundheitswesens. Dieses ist als Sektor direkt von den Folgen der Krise betroffen und hat gleichzeitig einen maßgeblichen Beitrag an ihrer Entstehung. Mit seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung kann das Gesundheitswesen zum Treiber für die gesamte Klima- und Transformationsdebatte werden. Dazu braucht es eine Neuaufstellung in Richtung ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit, die mit einer effektiven medizinischen Infrastruktur Teilhabe für jeden ermöglicht.
ISBN: 978-3-95466-757-4