Porträt
Komplementärmedizin: Holger Cramer erforscht, was wirklich hilft

Vor einem Jahr hat Prof. Dr. Holger Cramer die neue Professur für die Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren an der Universität Tübingen und am Bosch Health Campus angetreten. Nachdem er im Studium selbst Erfahrung mit Yoga gesammelt hat, untersucht er heute wissenschaftlich, wie wirksam diese und andere nicht-konventionelle Behandlungsmethoden sind.

Alexandra Wolters | September 2023
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Beate Armbruster / Universitätsklinikum Tübingen

Holger Cramer ist kein Yoga-Lehrer. Aber viele bezeichnen ihn als den Yoga-Professor Deutschlands. Wenn der Psychologe das hört, muss er schmunzeln – und relativiert: „Es gibt im deutschsprachigen Raum nicht so viele Wissenschaftler:innen, die zu Yoga forschen.“ Und kaum einer von ihnen taucht so oft zum Thema Yoga in den Medien auf wie er. In den Beiträgen und Interviews geht es nicht darum, wie Yoga-Übungen am besten durchgeführt werden, sondern um die Wirksamkeit von Yoga. Holger Cramer erforscht seit vielen Jahren verschiedene Methoden der Komplementärmedizin wissenschaftlich, etwa auch Meditation und Akupunktur. „Diese Methoden gehören nicht, oder noch nicht, zur Standardmedizin und ihnen ist meist gemeinsam, dass ihnen ein anderes Modell zur Entstehung von Krankheit und Gesundheit zugrunde liegt“, erklärt der Wissenschaftler.

Für mich als Wissenschaftler ergibt sich die Notwendigkeit zu erforschen, welche gesundheitlichen Erwartungen sich wirklich halten lassen und wo eventuell Gefahren bestehen.

Es gibt in Deutschland eine große Nachfrage nach Akupunktur, Yoga und Heilpflanzen; etwa die Hälfte der erwachsenen Allgemeinbevölkerung nutzt komplementärmedizinische Verfahren. „Daraus ergibt sich für mich als Wissenschaftler die Notwendigkeit zu erforschen, welche gesundheitlichen Erwartungen sich wirklich halten lassen, bei welchen Erkrankungen eine Wirkung nachgewiesen werden kann und bei welchen auch nicht, wo eventuell sogar Gefahren bestehen.“ Während seines Studiums der Psychologie konnte Cramer selbst positive Auswirkungen seiner Yoga-Übungen spüren. Seine Nackenschmerzen ließen nach – was auch zu seiner Promotion „Yoga bei chronischen Nackenschmerzen“ an der Universität Duisburg-Essen führte. Dort blieb er für 13 Jahre, zuletzt als Forschungsleiter an der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin – bis er 2022 dem Ruf an die Universität Tübingen und an den Bosch Health Campus (BHC) folgte.

Enger Austausch mit den klinischen Abteilungen

Hier übernahm Cramer die neu geschaffene Professur für die Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren. Sie ist die erste rein wissenschaftliche Professur im Bereich der Komplementärmedizin an einer deutschen staatlichen Universität. In den ersten fünf Jahren wird die Professur von der Robert Bosch Stiftung finanziert. Die anschließende Finanzierung trägt das Land Baden-Württemberg. Eine Besonderheit der Professur ist ihre Funktion als Brückenkopf zwischen dem Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung an der medizinischen Fakultät Tübingen und dem neuen Robert Bosch Centrum für Integrative Medizin und Gesundheit (RBIM) am BHC. „Hier in Stuttgart profitiere ich mit meiner Arbeitsgruppe vom klinischen Forschungsumfeld sowie den vielen Möglichkeiten zur Kooperation, etwa mit dem Dr. Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie und dem Robert Bosch Centrum für Tumorerkrankungen sowie den klinischen Abteilungen“, sagt Cramer. Die Abteilung für Naturheilkunde und Integrative Medizin des Robert-Bosch-Krankenhauses (RBK) bildet den klinischen Teil des RBIM.

Wir untersuchen, ob Yoga eine positive Wirkung auf Fatigue zeigt, eine beim Post-COVID-Syndrom häufige, starke chronische Ermüdung.

Auf seinem Arbeitsplan stehen zahlreiche Studien und Analysen. Wie wirken sich nicht-pharmakologische Verfahren auf die Gesundheit aus? Wie beeinflussen Yoga oder Akupunktur Nebenwirkungen von Krebstherapien, chronische Schmerzen oder Depressionen? Bei einer der ersten Studien am BHC geht es um die Wirkung von Yoga beim Post-COVID-Syndrom. Dieses betrifft nach neuesten Schätzungen bis zu zehn Prozent der Infizierten. „Wir untersuchen, ob Yoga im Vergleich zu einem standardisierten Gesundheitstraining eine positive Wirkung auf Fatigue zeigt, eine beim Post-COVID-Syndrom häufige, starke chronische Ermüdung“, sagt Cramer.

Für Projekte im Bereich der Krebstherapie hat der Wissenschaftler eine Zusammenarbeit mit der Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am RBK aufgebaut. Es gibt bereits vielversprechende Studien, die etwa für Akupunktur oder Yoga eine starke Wirksamkeit als begleitende Krebstherapie sowie bei einigen psychischen Symptomen aufzeigen. Auf diesem Gebiet möchte Cramer mit seinem Team weitere klinische Untersuchungen durchführen und eine stärkere Evidenz schaffen, damit wirksame Verfahren in Krankenhäusern und Praxen Eingang finden. Um das Wissen in die medizinische Versorgung zu bringen, setzt der Psychologe auch auf die Entwicklung von medizinischen Leitlinien, etwa der S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patient:innen“, bei der er als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Naturheilkunde Mitglied der Steuergruppe ist. Cramer: „Das ist die erste Leitlinie, die sich spezifisch mit Komplementärmedizin beschäftigt. Sie gibt damit Handlungsempfehlungen, wo und wie es sinnvoll sein kann, bestimmte Verfahren in bestehende Konzepte zu integrieren – und wo nicht.“

Vernetzt bis nach Australien

In Deutschland ist die Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren noch ein kleines Feld. Daher ist für Cramer eine internationale Anbindung sehr wichtig. Als Adjunct Associate Professor der Southern Cross University in Lismore, Australien, Präsident der International Society for Traditional, Complementary and Integrative Medicine Research und Chefredakteur des Journal of Complementary and Integrative Medicine ist er oft international unterwegs – auf Netzwerktreffen oder Kongressen. Regelmäßig reist er nach Australien und in die USA. Derzeit ist er aber vor allem in Tübingen und Stuttgart, wo er sich als Ruhrgebietskind sehr wohl fühlt. „Ich bin noch nie so viel gewandert, wie in meinem ersten Jahr im Schwabenland“, erzählt Cramer und schwärmt von seinem fast täglichen Weg aus dem Stuttgarter Süden an den Campus auf dem Burgholzhof: „Ich laufe durch die Weinberge zur Arbeit. Das ist großartig – und fühlt sich immer ein bisschen wie Urlaub an.“