INSEA – zehn Jahre Selbsthilfe für den Alltag
Seit 2014 unterstützt das INSEA-Programm chronisch kranke Menschen mit Kursen für ein erfolgreiches Selbstmanagement. Nach über zehn Jahren wird die Nationale Koordinierungsstelle, die bisher vom Bosch Health Campus finanziert wurde, nun an die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppe e.V. übergeben. Teilnehmende lernen in INSEA-Kursen, den Alltag mit ihren Erkrankungen besser zu gestalten. Die Wirksamkeit der Kurse ist erwiesen und ihre Bedeutung anerkannt.
Joggen schafft für Anja Gebauer einen Ausgleich zum Alltag und gibt ihr wieder neue Energie.
Eine Notiz im Kalender reicht Anja Gebauer (*Name von der Redaktion geändert) meist nicht aus, um an einen wichtigen Termin, eine Verabredung oder einen Geburtstag zu denken. Bei der 34-Jährigen wurde vor zwei Jahren die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS diagnostiziert. Diese neurologische Entwicklungsstörung äußerst sich häufig durch große Konzentrationsschwierigkeiten, starke Impulsivität und ausgeprägte körperliche Unruhe.
Anja Gebauer fällt es zum Beispiel sehr schwer, an Dinge zu denken, wenn sie diese nicht visualisiert hat. „Ich muss meine Termine und To-Do-Listen in meiner Wohnung so platzieren, dass sie mir möglichst oft und direkt in den Blick fallen“, erzählt die Lehrerin. So hängen die ersten Informationen für den Tag im Badezimmerschrank, den sie jeden Morgen öffnet. Noch einfacher fällt es ihr, sich mit Bildern an Dinge zu erinnern.
Deshalb hat sie Fotos von ihren Freundinnen und Freunden gemacht. Um Geburtstage oder Verabredungen zu planen, holt sie das passende Bild aus ordentlich beschrifteten Kästen und hängt es an die sonst kahle Wand in ihrer hellen Küche, um sich daran zu erinnern.
Im INSEA-Kurs hat die Teilnehmerin gelernt, ihren Alltag durch Handlungspläne gezielt zu strukturieren und bewusst Aktivitäten einzuplanen, die ihr gut tun.
Nur neben dem Kühlschrank kleben noch ein paar Zettel, einer davon mit ihrem selbst erstellten Handlungsplan für die Woche. Darauf steht zum Beispiel: „Jeden Tag mindestens 15 Minuten spazieren gehen und spätestens um 22 Uhr ins Bett gehen“. Oder auch wann sie was zum Frühstück, Mittag- und Abendessen zubereiten möchte. „Die Handlungspläne sind für mich das A und O. Sie helfen mir, meinen Alltag zu strukturieren und Dinge zu beherzigen, die mir guttun“, sagt die ADHS-Patientin, die aufgrund ihrer Erkrankung Schwierigkeiten hat, Prioritäten zu setzen, sich nicht ablenken zu lassen und feste Zeiten einzuhalten. Wie sie realistische, umsetzbare und möglichst konkrete Ziele für die Pläne findet, ohne sich damit zu stressen oder zu geißeln, hat sie in einem INSEA-Selbstmanagement-Kurs für chronisch Erkrankte am Bosch Health Campus gelernt.
Weltweites Selbsthilfeprogramm für chronisch Kranke
INSEA steht für die „Initiative für Selbstmanagement und aktives Leben“ und ist ein 2014 gegründetes deutsches Netzwerk zur Umsetzung des bewährten „Chronic Disease Self-Management Program“. Kate Lorig, Medizinprofessorin an der Universität Stanford in den USA, hat das Programm 1994 entwickelt. Inzwischen lernen damit weltweit in mehr als 20 Ländern chronisch Erkrankte, aktiv mit ihrer Krankheit umzugehen, ihre Lebensqualität zu verbessern und ihren Alltag zu organisieren. Die Kurse richten sich an Menschen mit unterschiedlichen und auch mehrfachen chronischen Erkrankungen, an deren Angehörige und befreundete Personen. In Deutschland unterstützen neben dem Bosch Health Campus unter anderem auch die Barmer Krankenkasse sowie die Schweizer Stiftung Careum die Umsetzung der für die Teilnehmenden kostenfreien Kurse.
„INSEA ist kein Programm zur Behandlung einer Erkrankung, sondern eine Hilfe zur Selbsthilfe. Wir geben den Betroffenen verschiedene Werkzeuge an die Hand, die ihnen helfen, mit ihrer Krankheit zu leben und ihren eigenen Alltag so gut wie möglich selbst zu managen“, betont Gabriele Seidel, die in den vergangenen zehn Jahren die Nationale INSEA-Koordinierungsstelle an der Medizinischen Hochschule Hannover geleitet hat. Mit deren Netzwerk sind in dieser Zeit Strukturen entstanden, über die der Aufbau, die Organisation und das Management zur Verbreitung des Kursprogramms organisiert sind. Von zwei auf neun hat sich die Zahl der Standorte erhöht, an denen Einrichtungen der Selbsthilfe sowie vom Bosch Health Campus geförderte PORT-Zentren (Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung) regelmäßig INSEA-Kurse anbieten – als Präsenzveranstaltung aber auch online und im telefonischen Austausch.
Zu den Inhalten der sechswöchigen Kurse, in denen sich die Teilnehmenden wöchentlich treffen, gehören zum Beispiel Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen, mit denen sich Schmerzen lindern lassen. Auch Themen wie gesunder, ausreichender Schlaf und ausgewogene Ernährung, Vorbereitungen für Arztgespräche und der Umgang mit Medikamenten sowie Methoden zur Entscheidungsfindung stehen auf dem Programm. Herzstück der Kurse sind die Handlungspläne, mit denen die Teilnehmenden üben, sich selbst wöchentlich realistische Ziele zu setzen und die Umsetzung zu trainieren. Damit beginnt und endet jedes der zweieinhalbstündigen Treffen.
Evaluationen belegen die Wirksamkeit von INSEA
Jeder Kurs wird von der Medizinischen Hochschule Hannover evaluiert – und wirkt, zeigen die Ergebnisse. „Das Programm führt nachweislich zu einer Verbesserung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens, der Lebensqualität, des Medikamentenmanagements und der Kommunikation mit Gesundheitsfachpersonen. Nachgewiesen wurde auch die Reduktion von Arzt- und Krankenhausbesuchen“, weiß Gabriele Seidel. Die Wirksamkeit bestätigen auch die inzwischen mehr als 3200 Teilnehmenden. Viele von ihnen berichten, wie sie mit den erlernten Werkzeugen den Teufelskreis aus Schmerzen, Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und sozialer Isolation durchbrechen konnten, den viele chronisch Kranke erleben. Egal, ob sie an Diabetes, Herzkreislauf oder Lungenerkrankungen, Krebs, Rheuma oder Depressionen leiden.
Fotos von Freund:innen helfen der INSEA-Teilnehmerin, sich an Geburtstage oder gemeinsame Verabredungen zu erinnern – für den Wochenmarkt bindet sie ehrenamtlich Blumensträuße.
Auch Anja Gebauer konnte mit Hilfe von INSEA ihr Leben mit ADHS positiv verändern: „Ich habe gelernt, gelassener zu werden und die Dinge wichtig zu nehmen, die mir die nötige Energie für meinen beruflichen und privaten Alltag geben.“ Dazu zählen regelmäßiges Joggen und Basteln, Lesen, Tee trinken und das Entspannen auf einer Akkupressurmatte. Außerdem bindet sie ehrenamtlich für den Wochenmarkt in Reutlingen Blumensträuße. „Ich helfe einfach gerne und gebe etwas zurück“, erzählt die Lehrerin. Deshalb kann sie sich auch gut vorstellen, in Zukunft das INSEA-Team als Kursleiterin zu unterstützen. Das Programm setzt dabei auf ein Tandem, das die Inhalte vermittelt. Von den zwei geschulten Kursleitungen ist mindestens eine selbst von einer chronischen Erkrankung betroffen oder hat persönliche Erfahrungen damit gemacht. „So schaffen wir einen Austausch und eine Hilfe auf Augenhöhe“, erklärt Gabriele Seidel.
Alle Beteiligten arbeiten daran, das Programm in Zukunft noch weiter auszubauen, weitere Standorte aufzubauen und setzen sich dafür ein, dass INSEA nachhaltig einen festen Platz im Gesundheitswesen findet – damit möglichst viele Menschen aktiv und mit einem guten Selbstmanagement ihren Krankheiten begegnen können.