Doppelinterview
Für mehr Chancengleichheit im Gesundheitswesen
Die Poliklinik Veddel in Hamburg und das Gesundheitskollektiv (GeKo) Neukölln in Berlin sind Primärversorgungszentren, die sich umfassend um die Menschen und deren Gesundheit in ihren Stadtteilen kümmern. Der Bosch Health Campus fördert beide Einrichtungen im Rahmen des Programms PORT – Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung. Beide Zentren zusammen haben den Berliner Gesundheitspreis 2023 des AOK-Bundesverbands und der Berliner Ärztekammer erhalten. Was macht ihr Konzept so erfolgreich und welche Herausforderungen gilt es zu meistern? Darüber sprechen Patricia Hänel, Ärztin und Mitbegründerin des GeKo Neukölln, und Milli Schroeder, Koordinatorin und Mitbegründerin der Poliklinik Veddel.
Stadtteilversammlung in Hamburg Veddel: Das Forschungsteam der Poliklinik Veddel stellte erste Ergebnisse ihrer partizipativen Gesundheitsbefragung vor, dem "Community Health Survey Veddel". Ziel ist es, zeitgemäße und bedarfsorientierte Versorgungsangebote für die Menschen vor Ort zu entwickeln.
Ihre Gesundheitszentren haben gemeinsam den Berliner Gesundheitspreis bekommen. Herzlichen Glückwunsch! Das Motto war „Gesundheit gerecht gestalten“. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Patricia Hänel: In Berlin Neukölln gibt es viele Menschen, die einen schlechten Zugang zum Gesundheitssystem haben. Sie wissen oftmals nicht, wo und wie sie Hilfe finden und Leistungen in Anspruch nehmen können. Wir versuchen, mit unseren leicht zugänglichen Angeboten diesen Menschen besonders entgegen zu gehen. In unserer Café-Praxis, die jedem offensteht, bieten wir kostenlose Beratungen zum Thema Gesundheit und anderen Fragen der Lebensperspektive an. Gibt es Probleme mit den Arbeits- und Wohnbedingungen, den Finanzen und der Sprache? Dann helfen wir – zum Beispiel mit Übersetzungen, beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen. Unser multiprofessionelles Team arbeitet eng mit Ehrenamtlichen aus dem Stadtteil zusammen. Das sorgt für eine Vernetzung, schafft Vertrauen und erleichtert vielen den Zugang.
Milli Schroeder: Die Forderung „Health in all Policies“ („Gesundheit in allen politischen Feldern“) ist ja bereits 40 Jahre alt. Wir wissen schon lange, dass sich Probleme in den Lebensbedingungen, wie Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildung, auch auf die Gesundheit auswirken. Der Preis zeigt, dass das Thema auch bei den Krankenkassen angekommen ist, und eine echte Veränderung hin zu mehr Chancengleichheit angestrebt wird.
Die Konzepte Ihrer Gesundheitszentren verbinden eine medizinische, psychologische und soziale Versorgung. Wie funktioniert das genau?
Milli Schroeder: Unser Konzept beinhaltet drei Ebenen: Da ist zunächst das Primärversorgungsangebot. Das umfasst in der Poliklinik Veddel die allgemeinärztliche Versorgung, die soziale und psychologische Beratung, die Hebammenarbeit und das Community Health Nursing mit professionellen Pflegeangeboten. Die jeweiligen Berufsgruppen arbeiten alle interprofessionell zusammen, um die Menschen bestmöglich zu begleiten und mit ihnen gemeinsam Behandlungsentscheidungen zu finden. Dazu kommt der Bereich der Prävention. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie wir Verhältnis- und Verhaltensprävention verbinden können, also ein gesünderes Verhalten der Menschen mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen. Der dritte Teil besteht aus der Forschung. Wir machen Umfragen, erheben Daten und beteiligen uns an Studien, mit dem Ziel, bedarfsorientierte und zeitgemäße Versorgungsangebote entwickeln zu können.
Patricia Hänel: In Berlin Neukölln haben wir fast das gleiche Angebot. Anstelle der Hebammenversorgung gibt es aber eine kinderärztliche Praxis, statt Community Health Nursing ist bei uns ein Team der Gemeinwesenarbeit unterwegs, das mobile Beratung sowie Sport- und Aktivitätsprogramme für Jugendliche anbietet. Im Erdgeschoss haben wir zudem ein großes Begegnungscafé – ein wichtiger Bestandteil, damit das Zentrum von den Menschen angenommen wird, nicht nur, wenn sie krank sind.
Die Café-Praxis des Gesundheitskollektivs in Berlin Neukölln bietet kostenlose Beratungen zum Thema Gesundheit und anderen Fragen der Lebensperspektive an. Das sorgt für Vernetzung, schafft Vertrauen und erleichtert vielen den Zugang.
Wie läuft denn die Finanzierung für Ihre Gesundheitszentren, die ja so viele unterschiedliche Leistungen anbieten?
Patricia Hänel: Die Finanzierung ist höllenschwierig. Um das nötige Geld zusammenzubekommen, laufen bei uns aktuell sieben Förderprojekte. Die sind alle zeitlich begrenzt sowie antrags- und berichtspflichtig. Das ist ein wahnsinnig bürokratischer Aufwand. Wir haben auch einen Antrag beim Innovationsfonds gestellt, der ja eine Art Pipeline für die Regelversorgung sein soll.
Was bräuchte es noch, um aus ihren Konzepten eine erfolgreiche Blaupause für weitere Gesundheitszentren in Deutschland zu machen?
Milli Schroeder: Im Koalitionsvertrag ist ja festgeschrieben, dass in Deutschland multiprofessionelle Gesundheitszentren aufgebaut und gefördert werden. Unserer Ansicht nach sollten flächendeckend Primärversorgungszentren eingerichtet werden, die eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Berufsgruppen auf Augenhöhe ermöglichen. Die bestehende Fokussierung auf Ärzt:innen in der ambulanten Gesundheitsversorgung ist in mehrfacher Hinsicht dysfunktional, wie der internationale Vergleich zeigt.
Patricia Hänel: Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Aufwertung der Pflege. Eine umfangreiche Kompetenzübertragung ist notwendig, um angesichts der steigenden Komplexität der Bedarfe und des wachsenden Fachkräftemangels eine gute Versorgung sicherstellen zu können. Auch Primärversorgungszentren, die von der Pflege geleitet werden, müssen denkbar werden.
Welche Forderungen gibt es noch in Richtung Politik?
Milli Schroeder: Es ließe sich viel mehr erreichen, wenn der Ansatz „Health in all Policies“ in den Behörden verankert wäre, um gegen die Chancenungleichheit im Gesundheitsbereich vorgehen zu können. Darüber hinaus sollten zusätzliche Stellen geschaffen werden, um Gesundheitsprävention und -förderung in den Stadtteilen weiterzubringen.
Patricia Hänel: Ich würde mir wünschen, dass wir als Akteure vor Ort noch mehr von der Politik einbezogen werden, dass wir mit unseren Erfahrungen mehr zu neuen Konzepten beitragen könnten. Bislang können wir durch unsere Angebote nur etwas reparieren. Aber es ist Zeit, für eine wirkliche Veränderung, damit das, was wir machen – eine umfassende Gesundheitsversorgung für alle – normal wird.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Patricia Hänel ist Koordinatorin und Projektleiterin des Gesundheitskollektivs Berlin, das sie mitgegründet hat. Die Ärztin befürwortet einen flächendeckenden Aufbau von Gesundheitszentren in Deutschland, die multiprofessionell mit niedrigschwelligen Angeboten arbeiten.
Milli Schroeder ist eine der Mitbegründerinnen der Poliklinik Veddel im Hamburger Süden. Die Politikwissenschaftlerin übernimmt im Gesundheitszentrum eine Schnittstellenfunktion und ist verantwortlich für die Verwaltung und Projektkoordination. Eines ihrer wichtigsten Anliegen ist eine gesundheitliche Chancengleichheit.