Neue Erkenntnisse zur Gesundheitskompetenz
Die Stärkung von Gesundheitskompetenz könnte in Deutschland besser und einfacher funktionieren. Wie? Das zeigen Arbeiten aus dem Promotionsprogramm „Chronische Erkrankungen und Gesundheitskompetenz“, das der Bosch Health Campus unterstützt hat.
Die Stipendiat:innen beleuchten in ihren wissenschaftlichen Arbeiten das Thema Gesundheitskompetenz aus verschiedenen Perspektiven und Forschungsrichtungen.
Einen Gänsehautmoment hatte Nadine Fischbock bei ihren Beobachtungen von Pflegepersonen für ihre Promotionsarbeit. Es war ein „furchtbar heißer Sommertag“, erinnert sich die diplomierte Pflegewirtin aus Hannover. Sie stand in der Ecke eines Krankenhauszimmers und sah einem Pfleger dabei zu, wie er sich um eine ältere Patientin kümmerte. Sie hatte ihn um ein weiteres Glas Wasser gebeten mit den Worten: „Alle sagen ja immer, man soll viel trinken.“ Der Pfleger schüttelte daraufhin den Kopf. „Bei Ihnen ist das anders. Sie haben eine Herzschwäche. Das bedeutet, dass Ihr Herz nicht mehr so viel pumpen kann, um zum Beispiel das Wasser aus Ihren Beinen zu bekommen.“ Daraufhin herrschte kurz Stille. „Kann ich deshalb auch nachts oft nicht so gut schlafen?“, kam nach einer Weile von der Seniorin. „Ja, genau“, erklärte der Pfleger. „Dann drückt das Wasser auf die Lunge und Sie bekommen schlechter Luft.“ Die Patientin litt zu dem Zeitpunkt bereits seit mehr als zehn Jahren an ihrer chronischen Erkrankung und den damit einhergehenden Beschwerden. Aber noch nie hatte ihr jemand erklärt, dass die Trinkmenge Einfluss auf ihre Herzleistung und ihren Kreislauf hat. Bis zu diesem heißen Sommertag, an dem ein Pfleger ihr zuhörte, Antworten fand und sich Zeit für ein längeres Gespräch nahm. „Ein toller Moment“, erinnert sich Nadine Fischbock, „weil ich genau sehen konnte, wie Vertrauen entstand und wichtiges Wissen vermittelt werden konnte.“
Vor etwa vier Jahren kam die Pflegewirtin und examinierte Krankenschwester auf die Idee zu promovieren. Zu dem damaligen Zeitpunkt arbeitete sie als Referentin der Geschäftsführung der Medizinischen Hochschule Hannover. Dort erfuhr sie von dem Promotionsprogramm „Chronische Erkrankungen und Gesundheitskompetenz (ChEG)“, das vom Bosch Health Campus gefördert und von 2020 bis 2024 an der Medizinischen Hochschule Hannover in Kooperation mit weiteren Hochschulen durchgeführt wurde.
Ein Stipendium als „Sechser im Lotto“
Nadine Fischbock bewarb sich mit ihrem Thema „Wie verstehen und leisten Pflegefachpersonen ihren Beitrag zur Förderung der Gesundheitskompetenz bei Patient:innen?“. Neben zwölf anderen Stipendiat:innen wurde die 44-Jährige in das interdisziplinäre Programm aufgenommen. „Das war für mich wie ein Sechser im Lotto“, erzählt die dreifache Mutter. Zum einen half ihr die finanzielle Unterstützung von etwa 1200 Euro im Monat. Zum anderen profitierte sie von den Programminhalten wie den fachbezogenen Seminaren, den Methodenwerkstätten, der individuellen und intensiven Betreuung sowie den regelmäßigen Besprechungen, bei denen alle Stipendiat:innen von ihrem aktuellen Stand berichteten. „Das war immer ein wenig aufregend. Es gab gute Impulse und Rückmeldungen, sodass man wusste, was in die richtige Richtung geht – und wo man noch einmal nacharbeiten musste“, so Nadine Fischbock. Das Programm sei aber für sie vor allem deshalb so wertvoll gewesen, weil es eine Gruppe von Menschen zusammengebracht hat, die zwar aus verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen kommen, sich aber mit einem gemeinsamen Thema beschäftigen und in einem geschützten Rahmen ihre Gedanken teilen können. Alle hätten voneinander profitiert, sich gegenseitig unterstützt und zusammen ihre wissenschaftlichen Arbeiten vorangebracht.
Im Einsatz für mehr Gesundheitskompetenz
„Das Programm ist sehr erfolgreich verlaufen“, urteilt Susanne Melin, Teamleiterin am Robert Bosch Centrum für Innovationen im Gesundheitswesen. Am Bosch Health Campus gab es verschiedene Motivationsgründe für die Förderung des Programms: „Wir wollten zum einen die Daten- und Wissensbasis zur Gesundheitskompetenz vergrößern und die noch junge Forschung dazu im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen vorantreiben.“ Dieses Ziel konnte ebenso erreicht werden, wie ein anderes: Junge Wissenschaftler:innen für das Thema Gesundheitskompetenz zu gewinnen, sodass sie sich damit identifizieren und es als Multiplikator:innen in die Gesellschaft und ihre Berufe weitertragen können.
Gesundheitskompetenz bezieht sich auf die Fähigkeit und Fertigkeit von Personen, gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden. Vor allem bei chronisch kranken Menschen hat Gesundheitskompetenz einen erheblichen Einfluss auf den Gesundheitszustand, das Wohlbefinden und die Lebensqualität. „Die Frage, mit der wir uns am Bosch Health Campus beschäftigen, lautet daher: Wie kann in unserem Gesundheitssystem diese Fähigkeit gestärkt und gefördert werden?“, sagt Susanne Melin und betont: „Wir konnten schon einiges an Expertisen und Netzwerken in dieses Programm mitbringen, von dem wir jetzt die Früchte in Form von aufschlussreichen Promotionsarbeiten ernten dürfen.“
Vermittlung darf keine Frage von individueller Haltung sein
Nadine Fischbock hat für ihre Arbeit in verschiedenen Krankenhäusern Eins-zu-Eins-Beobachtungen und Ad-hoc-Interviews durchgeführt. Nach der Auswertung aller Daten ist sie zu folgenden Erkenntnissen gekommen: Auf der einen Seite zeigt sich in der Gruppe der befragten Pflegefachpersonen ein geringes Bewusstsein dafür, was Gesundheitskompetenz genau ist. Gleichzeitig praktizieren sie in ihrem Handeln, im fachlichen und beruflichen Alltag eine Förderung von Gesundheitskompetenz in allen möglichen Facetten – allerdings abhängig von ihrer individuellen Haltung und Einstellung und auch der Zeit, die ihnen zur Verfügung steht.
Daraus ergibt sich die Frage, welche Prozesse und Strukturen auf den Stationen und in den Krankenhäusern die Vermittlung und Stärkung von Gesundheitskompetenz unabhängig von der individuellen Haltung unterstützen können. Zu den Instrumenten, die die Pflegewirtin aufzählt, gehören zum Beispiel Aufnahmegespräche, Pflegevisite, Übergaben der Pflege am Bett sowie ein umfassender Pflegeprozess von der Anamnese über die Planung und Durchführung von Pflegemaßnahmen bis zur Evaluation.
„Solche pflegefachlichen Elemente sind auf den meisten Stationen bekannt, werden aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht angewandt. Dabei bieten sie gute Möglichkeiten, Gesundheitskompetenz zu fördern“, erklärt Nadine Fischbock. Wenn sie in der Arbeit und in den Strukturen auf der Station fest verankert wären, dann würden sie zur Regel. „Dann wird die so wichtige Stärkung der Gesundheitskompetenz ganz selbstverständlich und zur Kultur.“
Einfache Sprache führt zu mehr Verständnis
Die Stipendiat:innen wurden ganz bewusst aus verschiedenen Disziplinen wie Pflege- und Sozialwissenschaften, Physiotherapie und Sprachwissenschaften ausgewählt, weshalb ihre Arbeiten ein Spektrum aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Thema Gesundheitskompetenz zeigen.
Auch die Verständlichkeit von Gesundheitsinformationen wurde von Stipendiat:innen untersucht. Janina Kröger hat für ihre Promotionsarbeit medizinische Ratgebertexte analysiert und die Beiträge in Einfacher Sprache mit denen in Standardsprache verglichen. „Das vermutlich größte Take-away meiner Arbeit ist die Beobachtung, dass die Ratgeber in Standardsprache oftmals sehr komplex sind.
„Wir brauchen mehr Informationen in Einfacher Sprache, weil die Verständlichkeit bei diesen Texten besser ist.“
Nur dann werden diese für viele wirklich wichtigen Informationen auch ohne großen kognitiven Aufwand zugänglich.“ Helfen würde nach Krögers Erkenntnissen zum Beispiel, wenn alle, die Gesundheitsinformationen veröffentlichen, sich an den Regeln der Einfachen Sprache orientieren würden. Wie zum Beispiel die Verwendung von kurzen Sätzen und wenigen Passivkonstruktionen, das Vermeiden von Fremdwörtern und Nebensätzen. „Bei Texten in Einfacher Sprache kommt es darauf an, sich eher auf die Basisinformationen zu konzentrieren, die Texte gut zu strukturieren und so konkret wie möglich zu formulieren. Man muss immer wieder überlegen, was kann überhaupt als bekannt vorausgesetzt werden. Und im Zweifel lieber mehr erklären“, beschreibt Janina Kröger. Als Übersetzungswissenschaftlerin haben ihr im Promotionsprogramm vor allem die gesundheitsfachlichen Seminare viel gebracht. „Ohne das Programm hätte dieser Input gefehlt und ich hätte meine Arbeit vermutlich niemals so interdisziplinär schreiben können.“
Die Interdisziplinarität ist eine Besonderheit des Promotionsprogramms. „Welche Wege auch immer die Stipendiat:innen nach ihrer Promotion einschlagen, wir hoffen, dass sie im Sinne der Gesundheitskompetenz und ihrer Stärkung in die Gesellschaft hineinwirken können“, so Susanne Melin – damit die Gesundheitskompetenz auf allen Ebenen des Gesundheitssystems und darüber hinaus ein fester Bestandteil wird.