Interview
„Es ist moralisch fragwürdig, Menschen erst krank werden zu lassen“

Seit Ende der Corona-Pandemie widmet sich der ehemalige Präsident des Robert Koch-Instituts Lothar H. Wieler Fragen der globalen und digitalen Gesundheit – als Professor am Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam. Seit letztem Jahr bringt er seine Expertise auch in unser europäisches Gesundheitsnetzwerk Sciana ein. Wir haben mit ihm über Prävention und Digitalisierung gesprochen und darüber, was eine gute Führungskraft ausmacht.

Das Gespräch führte Cornelia Varwig | März 2025
Lothar Wieler
Katrin Kerschbaumer

Prof. Dr. Lothar H. Wieler war Ende 2024 beim Treffen des Netzwerks Sciana in Salzburg dabei und gab als Senior Advisor sein Wissen an die Fellows weiter.

Weltweit unterscheiden sich die Lebensbedingungen, gesundheitlichen Bedrohungen und auch die Gesundheitsversorgung stark. Was nehmen Sie in den Blick, wenn Sie sich an Ihrem Lehrstuhl mit „Digital Global Public Health“ beschäftigen?

Lothar Wieler: Der Begriff „Global Public Health“ ist bewusst gewählt, weil es mir in erster Linie um öffentliche Gesundheitssysteme geht und weniger um die konkrete Gesundheitsversorgung einzelner Patient:innen. „Global“ deshalb, weil wir in unserem Fachbereich, den wir seit April 2023 am Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam neu aufgebaut haben, sehr viel aus dem Vergleich verschiedener Länder lernen. Derzeit beschäftigen wir uns vorwiegend mit Ländern in Afrika, insbesondere Südafrika. Wir schauen aber auch nach Osten, zum Beispiel nach Rumänien. Dabei fokussieren wir auf Prävention. Denn wir möchten mit dem, was wir tun, vor allem dazu beitragen, dass die Krankheitslast dadurch gesenkt wird, dass sich Menschen präventiv vor Krankheiten schützen. 

Eine Schwierigkeit bei Prävention ist ja: Selbst wenn Menschen die richtigen Informationen haben – also etwa wissen, welche Lebensmittel gesund sind und dass Bewegung gut ist – heißt das noch nicht, das sie auch gesünder leben.

Ja, gesundheitliche Bildung, die sogenannte Health Literacy, ist zwar ein wichtiger Ansatzpunkt, um Verhalten zu ändern, doch genügt diese allein nicht. Mindestens genauso entscheidend ist die Änderung der Umgebung. Ein Ziel wäre hier, dass Lebensmittel von Großkonzernen – sogenanntes Convenient Food –, eine höhere Qualität bekommen und vor allem weniger prozessiert sind. Ein anderer sinnvoller Ansatz wäre etwa, Werbung für ungesunde Lebensmittel für Kinder zu verbieten, wie es der derzeitige Landwirtschaftsminister vorgeschlagen hat. Leider ist er damit gescheitert.

Ein anderer sinnvoller Ansatz wäre, Werbung für ungesunde Lebensmittel für Kinder zu verbieten.

Ein Land, das mit Prävention sehr erfolgreich ist, ist Singapore. Der Stadtstaat ist zwar sehr paternalistisch organisiert, was für unsere Kultur nur partiell übertragbar ist, aber dort wird die Prävention tatsächlich sehr in den Vordergrund gerückt. Die Menschen werden gesünder älter und bestimmte Krankheitsprävalenzen sinken enorm, zum Beispiel Diabetes Typ 2. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind natürlich auch in unseren Breitengraden bekannt, wir müssen jedoch noch den „Mind Shift“ hinkriegen von der Konzentration darauf, Kranke zu therapieren, auf die Verhinderung von Krankheiten. Das geht nur über Lobbyarbeit und eine Änderung des Gesundheitssystems. Das Netzwerk Scania entwickelt hier viele innovative Konzepte.

Und worauf setzen Sie bei der gesundheitlichen Bildung? 

Wir konzentrieren uns darauf, Fehlinformationen zu erkennen und bestimmte Bevölkerungsgruppen gezielt mit Informationen zu versorgen. Dabei fokussieren wir uns auf Infektionskrankheiten, psychische Erkrankungen und Adipositas, denn letzteres geht häufig mit Diabetes Typ 2 einher. Der Anteil der Weltbevölkerung an übergewichtigen Menschen wird dramatisch zunehmen – das wird eine der größten Gesundheitslasten dieses Jahrhunderts. Dank digitaler Tools und generativer künstlicher Intelligenz können wir bestimmte Zielgruppen in der richtigen Sprache und Tonalität erreichen. GPT hat als ein Large-Language-Model die außergewöhnlichen Möglichkeiten dieser Tools in jüngerer Zeit verdeutlicht.

Wie kann Digitalisierung darüber hinaus helfen, die Gesundheitsversorgung voranzubringen?

Das sind etwa Tools zur Auswertung von Gesundheitsdaten. Damit können wir komplexe Krankheitsbilder viel besser einordnen. Nehmen wir als Beispiel die COVID-19-Pandemie: Eine der Herausforderungen war, den Menschen zu vermitteln, welches Risiko sie haben, schwer zu erkranken oder sogar zu versterben. Die großen Risiken konnten wir schnell benennen, das sind das Alter und bestimmte Grundkrankheiten. Diese individuellen Informationen sind bei den Krankenkassen für deren Versicherte vorhanden, und ebenso die Tools zur Auswertung. Jede Krankenkasse hätte ihren Patient:innen einen Brief mit dem jeweiligen Risiko sowie Verhaltensvorschlägen zusenden können. Das würde man als „Precision Public Health“ bezeichnen. Die Menschen hätten viel klarer wissen können, welches persönliche Risiko sie haben und wie sie sich in ihrem persönlichen Umfeld verhalten sollen. Diese Art von „Empowerment“ wäre sicher für viele Menschen eine große Hilfe gewesen.

Ein globales Problem müssen wir dabei aber auf dem Schirm haben: Der Einsatz von digitalen Werkzeugen kann Ungleichheit verstärken. Das liegt auch daran, dass die Tools der Künstlichen Intelligenz derzeit bei wenigen großen Tech-Firmen liegen. Wir sind daher vor allem daran interessiert, dass möglichst viele Bevölkerungsgruppen von der Digitalisierung profitieren und der „Digital Divide“, also die digitale Schere, nicht noch weiter aufgeht.

Welche weiteren Vorteile der Digitalisierung sehen Sie für das Gesundheitssystem?

Ein großer Vorteil ist die Disruption: Sie können Informationen zwischen Bereichen austauschen, die wir als „Silos“ bezeichnen – wie in Deutschland etwa die stationäre und ambulante Versorgung. Es ist immer noch häufig so, dass Patienteninformationen nicht automatisch an Hausärzt:innen gehen, wenn Patient:innen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Auch eine vollständige maschinenlesbare elektronische Patientenakte würde helfen, die Versorgung zu verbessern. Wenn Sie zum ersten Mal zu einem Arzt gehen, erhalten Sie in der Regel immer noch einen Zettel und tragen dort Ihre im Gedächtnis gebliebenen Vorerkrankungen ein, ob Sie schon mal eine Operation hatten und so weiter. Das ist unglaublich, denn erstens haben Sie nicht unbedingt alles im Kopf und zweitens können Sie gar nicht unbedingt einschätzen, was in dem Moment wichtig ist. Wenn die Ärzt:innen eine vollständig befüllte und auswertbare elektronische Patientenakte hätten, könnten sie Krankheiten viel besser einordnen, gezielter behandeln oder deutlich einfacher etwa die Wechselwirkung von bestimmten Medikamenten analysieren.

Wenn Sie zum ersten Mal zu einem Arzt gehen, erhalten Sie in der Regel immer noch einen Zettel und tragen dort Ihre im Gedächtnis gebliebenen Vorerkrankungen ein.

Ein weiterer Vorteil ist die Automatisation: Es gibt viele tägliche Vorgänge, die Computer besser oder schneller können. Das beginnt bei der Terminvergabe oder trifft auch auf die Auswertung bestimmter MRT- oder Röntgen-Bilder zu. Das betrifft aber auch die Arbeit von Pflegekräften: Diese verbringen sehr viel Zeit damit, ihre Tätigkeiten zu protokollieren – die nachvollziehbare Dokumentationspflicht. Sie könnten die Infos aber mit Spracherkennungswerkzeugen auch in ein Smartphone sprechen, Sprache würde direkt in auswertbare Protokolle umgewidmet. Oder man kann mithilfe von Smartwatches oder Smartringen die Bewegungen erfassen und daraus die Tätigkeit ermitteln. So hätten Pflegekräfte ebenso wie Ärzt:innen deutlich mehr Zeit für ihre Patient:innen und man könnte in Zeiten des Fachkräftemangels Lücken schließen. 

Selbstverständlich muss man die Risiken klar im Blick haben und diese den Menschen erklären. Wenn digitale Anwendungen als Black Box gesehen werden, ist das kein guter Motivator. Und natürlich hat der Datenschutz eine hohe Priorität. Hier gilt es Maß und Mitte zu finden: Wenn ich 100 Prozent Sicherheit einfordere – die es eh nie gibt –, dann wird in vielen Fällen Innovation gehemmt, was dann im Endeffekt einen größeren Schaden für die Menschen bedeuten kann. 

In Deutschland ist die Gesundheitsversorgung zwar vergleichsweise gut. Doch haben wir sehr hohe Kosten, während die Lebenserwartung laut der OECD erstmals unter dem EU-Durchschnitt liegt. Was muss sich ändern?

Das ist definitiv beschämend für ein so wohlhabendes Land, das auch noch in einer solch angenehmen Klimazone liegt. Doch die Lebenserwartung hängt nicht allein mit der Gesundheitsversorgung zusammen, das ist nur etwa ein Viertel. Der Hauptgrund ist, um es einfach herunterzubrechen, die ungesunde Lebensweise: Rauchen, Alkohol trinken, ungesunde Ernährung, wenig Sport treiben. Die meisten Menschen wollen länger gesund leben, das heißt wir brauchen einen Wandel vom Krankenversorgungssystem zu einem Gesundheitserhaltungssystem. Es ist tatsächlich auch moralisch fragwürdig, Menschen erst krank werden zu lassen, um sie dann zu behandeln, statt ihnen direkt die Möglichkeit zu geben, gesünder zu leben.

Und: Das deutsche Gesundheitssystem ist zwar leistungsstark, aber es ist nicht effektiv – die Behandlungsergebnisse sind in bestimmten Bereichen unterdurchschnittlich – und es ist auch nicht effizient, das heißt es kostet zu viel. Das Problem ist, dass Leistungen finanziert werden, unabhängig davon, ob das Ergebnis ein gutes oder ein schlechtes ist. Es gibt beispielsweise zertifizierte Krebszentren für bestimmte Krebsarten. Aber immer noch werden Patient:innen von Ärzt:innen behandelt, die nicht Teil eines solchen Zentrums sind. Ich bin mir sicher, dass Menschen 50 Kilometer weiter fahren würden, wenn sie wüssten, dass sich dadurch die Chance zu überleben deutlich erhöht. Hier wird mehr Transparenz die Versorgungsqualität betreffend zu einem stärkeren Bewusstsein der Patient:innen führen. 

 

Lothar Wieler

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Lothar H. Wieler

Lothar H. Wieler ist Veterinärmediziner, Mikrobiologe und Experte für Global Public Health. Von 1998 bis 2015 war er Professor und Geschäftsführender Direktor am Institut für Mikrobiologie und Tierseuchen an der Freie Universität Berlin, von 2015 bis 2023 Präsident des Robert Koch-Instituts. Seit 2023 ist Wieler Professor für Digital Global Public Health am Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam. Sein Ziel ist der Abbau gesundheitlicher Ungleichheit durch Förderung von Digital Public Health auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, mit einem besonderen Fokus auf Länder mit niedrigem und mittleren Einkommen.

Ihre Expertise reicht von der Mikrobiologie bis zur Makroebene der öffentlichen Gesundheit. Welches Forschungs- oder Praxisprojekt würden Sie umsetzen, wenn Sie unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung hätten? 

Auf meinem Lebensweg bin ich – angefangen bei der molekularen Bakteriologie über Infektionskrankheiten – immer mehr in den Bereich Public Health gelangt, also von der molekularen Grundlagenforschung zur angewandte Populationsforschung. Und ich bin zu der Erkenntnis gelangt: Die Basis eines jeden Allgemeinwesens ist eine gesunde Community – und dieses Lebensumfeld hängt unmittelbar vom politischen Handeln ab. In Berlin würde man „Kiez“ sagen. Das ist die Ebene, auf der die alltäglichen Probleme gelöst werden, nicht auf der nationalen Ebene. Das heißt, ich würde am meisten Ressourcen aufwenden, Communities resilienter zu formen, sodass sie Probleme selbst besser lösen können – flankiert von einer guten Governance. In den Communities kann man ganz konkret werden, und etwa Fragen beantworten wie: Welche digitalen Lösungen sind für diesen oder jenen Fall die besten? Also angewandte Implementierungsforschung – aber mit innovativsten technischen Lösungen. 

Wie politisch darf oder sollte Wissenschaft sein, wenn es um Fragen der Gesundheit geht?

Eine Wissenschaft wie die Biomedizin, generell Wissenschaften, die sich mit messbaren Parametern befassen, sollten möglichst sachlich bleiben und auf Grundlage ihrer in fundierten Studien erhaltenen Ergebnisse publizieren. Und das sollte möglichst unpolitisch sein. Ich sage das auch deshalb, weil das in der Corona-Zeit die einzige Möglichkeit war, Vertrauen zu behalten. Das ist eine meiner Lehren aus der Pandemie: Vertrauen ist die wichtigste Währung. Wenn man Daten, die objektiviert vorliegen, politisch interpretiert oder versucht umzudeuten, dann verliert man zu Recht an Vertrauen.

Bei den Treffen des Netzwerks Sciana geht es auch darum, die eigene Führungsrolle zu reflektieren. Was muss eine Führungskraft aus Ihrer Sicht mitbringen, um in diesen bewegten Zeiten einen guten Job zu machen?

Generell sollte eine gute Führungskraft eine möglichst hohe Authentizität haben. Die Person sollte wissen, was sie kann und was nicht. Eine gesunde Selbsteinschätzung und Kritikfähigkeit ist vielleicht sogar die wichtigste Eigenschaft, weil man nur dann überzeugend handeln kann. Das zweite ist, dass die Führungskraft Menschen in ihrem Umfeld hat, die ihre Schwächen ausgleichen. Und natürlich muss sie Empathie haben für die Mitarbeitenden und deren fachliche Qualifikation in den Vordergrund stellen. Eine weitere wichtige Eigenschaft ist Resilienz. Das ist mit am wichtigsten im Falle von Krisen. Denn wenn Sie nicht resilient sind, und dann unter Druck schwere Entscheidungen treffen müssen, schaffen Sie es nicht mehr, mit objektiven Maßstäben zu bewerten. Zudem sollte man einen klaren moralischen Kompass haben.