Was künstliche Intelligenz in der Medizin bewirken kann
Der Einsatz von Methoden des maschinellen Lernens kann die medizinische Forschung und Praxis deutlich verbessern, zeigt der Datenwissenschaftler Gunnar Rätsch. Bei der Anwendung sehen Vertreter:innen aus Politik und Gesundheitswesen in Deutschland noch großen Nachholbedarf.
Gunnar Rätsch, Professor an der ETH Zürich, sprach auf Einladung des Bosch Health Campus in der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart über seine Forschungsprojekte an der Schnittstelle von Informatik und Medizin.
Auf der Intensivstation werden Patient:innen besonders genau überwacht – Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung, Atemfrequenz. Und jedes Mal, wenn ein Wert kritisch steigt oder fällt, schlägt das System Alarm – pro Patient bis zu zehn Mal in der Stunde. Beim Personal kann das zu Alarmmüdigkeit und Informationsüberlastung führen.
Hier kann künstliche Intelligenz Abhilfe schaffen: Gunnar Rätsch, Professor für Biomedizinische Informatik an der ETH Zürich, hat in Kooperation mit dem Universitätsspital in Bern ein Frühwarnsystem für Kreislaufversagen entwickelt. Das warnt nicht nur seltener, sondern auch früher als herkömmliche Systeme – in der Regel zweieinhalb Stunden, bevor es zum Kreislaufkollaps kommt.
2 Milliarden Messwerte gesammelt
Möglich machen das 2 Milliarden Messwerte, die das Universitätsspital Bern über 10 Jahre hinweg bei über 36.000 Patient:innen gesammelt hat und die Rätsch ausgewertet hat. Zusammen genommen sind das 240 Patientenjahre Erfahrung – die ein Arzt niemals sammeln könnte. „So kann künstliche Intelligenz helfen, die Versorgung in der Intensivmedizin zu verbessern und das Personal zu entlasten“, macht Gunnar Rätsch bei seinem Vortrag auf Einladung des Bosch Health Campus in der Robert Bosch Stiftung deutlich.
In der Diskussion über die Anwendung von künstlicher Intelligenz in der Gesundheitsversorgung (von links nach rechts): Moderator Dr. Christian Geinitz von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Prof. Dr. Gunnar Rätsch von der ETH Zürich, BHC-Geschäftsführer Prof. Dr. Mark Dominik Alscher, Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha, der Landesgeschäftsführer der Barmer Baden-Württemberg Winfried Plötze und Dr. Ingrid Wünning Tschol, Direktorin des Robert Bosch Center for Innovative Health am BHC.
Auch in der Krebsforschung können die Methoden des maschinellen Lernens von großem Nutzen sein. In der Tumor Profiler Studie etwa helfen sie dabei, einzelne Tumore besser zu verstehen. „Jeder Tumor ist einzigartig und sehr komplex. Die Kombination von vielen verschiedenen Messdaten ermöglicht es letztlich, ein Ranking zu erstellen, welche Therapien bei einem Patienten am besten anschlagen werden“, erklärt Rätsch.
Die Anwendung von künstlicher Intelligenz bringt allerdings auch Herausforderungen mit sich. Während Forscher:innen etwa eine effizientere Aufbereitung von Daten anstreben, geht es mit Blick auf Patient:innen darum, Berührungsängste ab- und Vertrauen aufzubauen. „Im Universitätskrankenhaus in Zürich sind nur 10 bis 20 Prozent der Patient:innen gegen eine Verwendung ihrer Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken", weiß Rätsch. In Deutschland sind das mehr.
„Wir müssen Datenschutz und Datenschatz in Einklang bringen“, betont Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer Baden-Württemberg. „Dabei sollten Patientinnen und Patienten bestimmen dürfen, welche ihrer Daten die Forschung nutzen darf.“ Der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha sieht hier auch die Politik in der Pflicht: „Es ist unsere Aufgabe, die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz zur Anwendung zu bringen.“
Mark Dominik Alscher, der Geschäftsführer des Bosch Health Campus und Medizinischer Geschäftsführer des Robert-Bosch-Krankenhauses, gibt zu bedenken, dass künftig weniger Ärzt:innen und Pflegekräfte mehr und älteren Patient:innen mit komplexen Krankheitsbildern gegenüberstehen werden. „Künstliche Intelligenz kann helfen, weiterhin gute Arbeit zu leisten. Wir sind aber zu langsam und dürfen uns das Thema Gesundheit nicht von Internetgiganten aus der Hand nehmen lassen.“
Mehr Austausch auf menschlicher Ebene
Die Leiterin des Robert Bosch Center for Innovative Health am Bosch Health Campus Ingrid Wünning Tschol sieht einen Vorteil darin, dass Menschen mithilfe von mobilen Geräten wie Smart Watches selbst mehr zu ihrer eigenen Gesundheitsvorsorge beitragen können. „Außerdem kann künstliche Intelligenz Ärzt:innen entlasten und so dafür sorgen, dass sie in der Sprechstunde mehr Zeit für ihre Patient:innen haben.“ Als „medizinische Wissensträger:innen“ werden Ärzt:innen an Bedeutung verlieren, ist Rätsch überzeugt, aber als erfahrene Gesundheitsberater:innen werden sie unersetzlich bleiben.