Interview
„Die Behandlung in spezialisierten Zentren erhöht die Überlebensrate erheblich“

Der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin kennt die medizinische Versorgung in Deutschland sehr genau. Hier erklärt er, wieso das System viel besser sein könnte, ob die Krankenhausreform hilft – und warum die Verzögerung der Digitalisierung andere Gründe hat, als gedacht.

Das Gespräch führte Paul-Philipp Hanske | Dezember 2024
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Björn Hänssler

Die Zukunft heißt integrierte Versorgung. Was das bedeutet und wie sich Anreiz- und Finanzierungssysteme dafür ändern müssen, weiß Prof. Dr. Reinhard Busse.

Herr Professor Busse, auf den ersten Blick können wir in Deutschland mit unserem Gesundheitssystem zufrieden sein. Wer krank ist, wird behandelt – zumindest halbwegs zeitnah. Wie sehen Sie die Situation?

Prof. Dr. Reinhard Busse: Diesen Optimismus kann ich leider nicht teilen. Wir haben in Deutschland sehr hohe Ausgaben – bekommen dafür aber wenig Gesundheit. Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit haben wir acht vergleichbare Länder analysiert, darunter Dänemark, die Niederlande, Belgien und Frankreich. Dabei zeigt sich, dass wir in absoluten Zahlen ähnliche Summen wie die Schweiz ausgeben – deutlich mehr als die anderen Länder – und gleichzeitig schlechtere Ergebnisse erzielen. Deutschland gehört zu den Ländern mit den höchsten Raten vermeidbarer Sterblichkeit. Das sind Todesfälle, die ein gut funktionierendes Gesundheitssystem verhindern könnte.

Was genau führt Ihrer Meinung nach zu diesen schwachen Ergebnissen?

Wir nehmen zu viele Patientinnen und Patienten ins Krankenhaus auf, anstatt sie ambulant zu versorgen. Im internationalen Vergleich sind die Deutschen Spitzenreiter bei der Zahl der Krankenhausaufenthalte und auch bei deren Länge. Andere Länder haben längst Strukturen geschaffen, die stärker auf ambulante Versorgung setzen.

Welche Krankheiten könnte man genauso gut oder gar besser ambulant versorgen?

Nehmen wir Bluthochdruck oder Diabetes. Das sind Erkrankungen, die man in anderen Ländern sehr gut ambulant betreut, sodass die Patientinnen und Patienten kaum ins Krankenhaus müssen. Auch die Anzahl der stationären Behandlungen pro Krebspatient ist viel höher als im europäischen Vergleich. Wir haben hier Strukturen, die wenig hinterfragt werden. Dabei könnten wir nicht nur enorme Ressourcen sparen. Stationär im Krankenhaus würden dann nur die Fälle landen, bei denen es nicht anders geht. Für diese würde dann eine bessere Versorgung zur Verfügung stehen, weil Ärzteschaft und Pflegende nicht so überlastet wären. Das Schlagwort hierfür heißt integrierte Versorgung.

Integrierte Versorgung – was bedeutet das konkret?

Eine sektorenübergreifend-integrierte Versorgung würde bedeuten, dass Patientinnen und Patienten so behandelt werden, wie es für ihren individuellen Fall am besten ist. In unserem System gibt es starre Trennlinien: Entweder wird eine Leistung stationär oder ambulant erbracht, und oft gibt es wenig Austausch zwischen diesen Sektoren. Eine integrierte Versorgung würde diese Grenzen stärker auflösen und die Patientin und den Patienten ins Zentrum stellen.

Eigentlich ist es allen lieber, wenn sie zuhause schlafen können – selbst denen, die sich einer akuten Krebsbehandlung unterziehen.

Beispielsweise könnten Behandelnde aus dem fach- und aus dem hausärztlichen Bereich gemeinsam darüber entscheiden, ob eine Therapie ambulant fortgesetzt werden kann oder ob ein stationärer Aufenthalt sinnvoll ist. Gerade für chronische Patientinnen und Patienten wäre ein solches System deutlich besser, weil sie dann nicht von einer Einrichtung zur nächsten geschickt werden, sondern in einem strukturierten Versorgungsnetz betreut werden. Auch ist es eigentlich allen, selbst denen, die sich einer akuten Krebsbehandlung unterziehen, in der Regel lieber, wenn sie zuhause schlafen können.

Gibt es für diese integrierte Versorgung gute Vorbilder in anderen Ländern?

Dänemark etwa. Dort funktionieren die Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sehr gut. In den Notaufnahmen der Krankenhäuser wird weitgehend ambulant behandelt, und nur etwa 20 Prozent der Patientinnen und Patienten werden stationär aufgenommen. Bei uns hingegen liegt dieser Anteil bei über 40 Prozent. Für chronische Erkrankungen bräuchten wir eine Art Case-Management, wo Hausärztinnen und Hausärzte die Steuerung übernehmen und gezielt an spezialisierte Stellen oder Kliniken verweisen – je nachdem, was nötig ist. Denn zurzeit haben wir ein gravierendes Problem: In Deutschland wird nur ein Teil der Erkrankten in zertifizierten Zentren behandelt. Das hat Konsequenzen für die Überlebenschancen.

Welche Folgen hat es, wenn man mit einer schweren Krankheit nicht in einem spezialisierten Behandlungszentrum behandelt wird?

Zertifizierte Behandlungszentren sind auf bestimmte Erkrankungen eingestellt, zum Beispiel auf Krebs. Die Deutsche Krebsgesellschaft etwa vergibt Zertifizierungen an Krankenhäuser, die strenge Anforderungen erfüllen – etwa in Bezug auf das Team aus den Bereichen Onkologie, Chirurgie und Strahlentherapie, auch müssen die Fachpflegekräfte Erfahrung mit der betreffenden Krebsart haben. Darüber hinaus spielt die Forschung eine besondere Rolle: In zertifizierten Krebszentren wird nicht nur die Behandlung auf einem hohen fachlichen Niveau durchgeführt, sondern auch engmaschig wissenschaftlich begleitet. Dadurch bleibt die Ärzteschaft auf dem neuesten Stand der medizinischen Erkenntnisse und habt oft die Möglichkeit, neue Therapiemethoden frühzeitig zu erproben. Patientinnen und Patienten profitieren davon direkt. Studien belegen, dass die Überlebenschancen in spezialisierten Zentren, die Zugang zu neuesten Forschungsergebnissen und Studien haben, erheblich höher sind. Konkret sinkt beispielsweise für eine Frau mit Brustkrebs das Risiko zu versterben, wenn sie in einem zertifizierten Brustkrebszentrum behandelt wird, um etwa ein Viertel.

Ein Viertel ist eine enorm hohe Quote. Wie viele Erkrankte werden denn in Deutschland in solchen Zentren behandelt?

Bei uns wird leider nur etwa die Hälfte der insgesamt an Krebs Erkrankten in solchen zertifizierten Zentren versorgt – bei Brustkrebs mehr, bei Lungenkrebs weniger. Das ist ein Skandal. Die anderen werden oft in Häusern aufgenommen, die zwar grundsätzlich die Kapazitäten haben, aber nicht die gleiche Spezialisierung und Erfahrung bieten. Und das gilt nicht nur bei Krebs, bei Schlaganfällen haben wir die gleiche Situation.

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Prof. Dr. med. Reinhard Busse

Reinhard Busse ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und Fakultätsangehöriger der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er ist Co-Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies und leitet das Gesundheitsökonomische Zentrum Berlin (BerlinHECOR). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Gesundheitssystemanalysen, insbesondere im europäischen Vergleich, sowie Versorgungsforschung und die Integration ambulanter und stationärer Behandlungen. Zudem ist er Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung.

Welchen Einfluss haben hierbei die Finanzierungssysteme?

Einen entscheidenden. Unsere Krankenhausfinanzierung basiert derzeit darauf, dass Kliniken für belegte Betten bezahlt werden. Das heißt, die Häuser haben einen starken finanziellen Anreiz, möglichst viele Patientinnen und Patienten stationär aufzunehmen. Krankenhäuser, die nicht ausgelastet sind, haben finanzielle Nachteile. Würde das System stärker in Richtung einer sektorenübergreifenden, integrierten Versorgung gehen, könnten die Patientinnen und Patienten in spezialisierten Zentren gezielt ambulant und stationär versorgt werden.

Wie beurteilen Sie in dieser Hinsicht die Krankenhausreform?

Die geplante Krankenhausreform geht meiner Ansicht nach in eine grundsätzlich richtige Richtung, aber die Schritte sind noch zu klein, um die systemischen Probleme wirklich zu lösen. Die Reform soll die Versorgung stärker spezialisieren, also sicherstellen, dass komplexere Fälle in dafür ausgerüsteten Krankenhäusern behandelt werden, während andere Einrichtungen sich auf weniger komplexe Fälle konzentrieren. Das ist ein Schritt in Richtung integrierte Versorgung und hin zu einer effizienteren Nutzung der Ressourcen, doch bleibt der Anreiz zur stationären Behandlung bestehen, solange die stationären Kapazitäten nicht tatsächlich reduziert werden. Auch die im Gesetz vorgesehene Umwandlung von Krankenhäusern in ambulant-stationäre Versorgungszentren ist essenziell.  

Welche Rolle kann die Digitalisierung in einem effektiven Gesundheitssystem spielen?

Eine entscheidende. Der schnelle Zugriff auf belastbares Zahlenmaterial kann bei der Entscheidung helfen, was die ideale Versorgung für Patientinnen und Patienten ist – und wo diese stattfinden kann. Die Digitalisierung kann das System effizienter und transparenter machen. Dazu muss aber zunächst eine solide Datengrundlage geschaffen werden. In Deutschland erfassen wir viele wichtige Daten schlichtweg nicht systematisch – etwa die Überlebensrate nach einem Herzinfarkt. Es gibt international Statistiken dazu, aber in Deutschland wissen wir nicht, wie viele 30 Tage nach einem Infarkt noch leben.

Es gibt international Statistiken dazu, aber in Deutschland wissen wir nicht, wie viele 30 Tage nach einem Infarkt noch leben.

Eine gute Digitalisierung würde die Datenlage verbessern und transparent machen, sodass wir Versorgungsergebnisse besser vergleichen und steuern könnten. Digitalisierung setzt jedoch auch voraus, dass die Akteure im System bereit sind, sich auf mehr Transparenz einzulassen. Viele sehen das kritisch, weil dies automatisch die Diskussion über Effizienz und Nutzen der erbrachten Leistungen anregen würde.

Warum gibt es Ihrer Meinung nach so viel Widerstand gegen mehr Transparenz und Digitalisierung im Gesundheitswesen?

Transparenz könnte einige Strukturen infrage stellen, die bisher unbemerkt bestehen. Gesundheitsdaten offenzulegen, heißt, sich messen und vergleichen zu lassen – und das wird nicht von allen als Vorteil gesehen. Es gibt Bereiche im System, die ineffizient sind, und eine Offenlegung dieser Daten könnte zu Diskussionen über die Sinnhaftigkeit bestimmter Leistungen oder Strukturen führen. Eine gute Digitalisierung würde solche Diskussionen ermöglichen, aber dafür braucht es die Bereitschaft zur Veränderung. Diese Veränderung tut dringend Not. Patientinnen und Patienten würden davon enorm profitieren. Konkret heißt das: Länger und besser leben.

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Björn Hänssler

Beim vierten Stuttgarter Gesundheitsgespräch im Herbst 2024 diskutierte der Berliner Gesundheitsökonom Reinhard Busse seine Erkenntnisse mit dem Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung Dr. Bernhard Straub (links), Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Mitte rechts) und Prof. Dr. Mark Dominik Alscher, dem Geschäftsführer des Bosch Health Campus (rechts).

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