Gastbeitrag
Gesundheit wird noch demokratie-relevanter
Die Gesundheitsversorgung in Deutschland wird immer teurer, aber nicht besser. Welches die wichtigsten Hebel sind, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, erklärt Prof. Dr. Christian Karagiannidis kompakt in seinem Gastbeitrag. Nachzulesen sind die Vorschläge im Buch „Die Gesundheit der Zukunft“, das er gemeinsam mit Prof. Dr. Boris Augurzky und Prof. Dr. Mark Dominik Alscher geschrieben hat.
Das Buch „Gesundheit der Zukunft. Wie wir das System wieder fit bekommen“ ist mir eine wirkliche Herzensangelegenheit. Wir merken im Klinikalltag, dass die generelle Unzufriedenheit immer weiter steigt, obwohl wir extrem viel Geld im System haben. Auch die Qualität wird, wenn ich die letzten 25 Jahre Revue passieren lasse, immer heterogener, und gerade die flächendeckende internistische Basisversorgung wird immer schwerer aufrechtzuerhalten.
Gesundheit wird noch viel demokratierelevanter werden als ohnehin schon. Einerseits, weil wir die Hausarzt- und Notfallversorgung sichern müssen, andererseits weil die Sozialabgaben drohen so hoch zu steigen, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland erheblich leiden wird. Eine extrem ungünstige Situation. Das System muss daher umfassend und vor allem schnell reformiert werden. Dazu im Folgenden ein paar Worte zu den ganz großen Hebeln im System, die wir jetzt sehr schnell bedienen müssen:
- Hausärzt:innen sowie Kinder- und Jugendmediziner:innen werden zu Gatekeepern. Das heißt: Viele Fälle werden abschließend bei ihnen behandelt und nur diejenigen, die wirklich einen Spezialisten brauchen, werden zu Fachärzt:innen weitergeleitet. Dies entlastet die Fachärzt:innen enorm, sodass sie sich wieder auf die schweren Fälle konzentrieren können. International ist diese Primärarztsystem bereits das dominierende Modell.
- Prävention fristet ein Stiefmütterchen-Dasein: Wenn Prävention erfolgreich umgesetzt werden soll, muss sie ökonomisch gekoppelt sein, zum Beispiel durch eine Erhöhung der Steuern für Zucker, um den Body-Mass-Index bei Kindern zu senken.
- Die elektronische Patientenakte (ePA) als der Dreh- und Angelpunkt im System: Deutschland leidet an einem Digitalisierungsdefizit, das nur langsam aufgeholt wird. Die ePA ist in vielen Ländern der Welt bereits Standard. Nur mit ihr gehen keine Befunde und Behandlungen verloren. Einer der großen Gamechanger im System.
- Berufs- und Leistungsrecht gemeinsam denken: Deutschland gehört zu den wenigen Ländern auf der Welt, in denen Pflegefachpersonen nicht eigenständig behandeln dürfen. Gerade im ambulanten Sektor können viele Patient:innen fallabschließend durch Pflegekräfte behandelt werden. Sie könnten beispielsweise Blasenkatheter wechseln oder Infusionstherapien bei Austrocknung einleiten. Dies vermeidet viele Arztkontakte und Notfälle.
- Eine sozial gerechte Eigenbeteiligung bei der Krankenversicherung: Internationale Daten, gerade aus den Niederlanden, zeigen, dass eine Selbstbeteiligung das System effizienter machen kann. Insbesondere Bagatellfälle treten deutlich seltener auf, wenn Patient:innen einfache Erkrankungen eigenverantwortlich daheim zur Ausheilung bringen. Dies reduziert die hohe Patientenlast, wodurch mehr Zeit für die schwierigen Fälle entsteht. Die Selbstbeteiligung sollte sozial verträglich gestaltet werden.
- Faire Arzneimittelpreise: Die Arzneimittelausgaben sind, wie alle anderen Ausgaben, explodiert. In Anbetracht der zu erwartenden vielen neuen Therapien muss Deutschland einen Weg finden, die Preise zu dämpfen und generell mit den Ressourcen besser umgehen lernen. Herzu braucht es eine gesetzliche Regelung, am besten in Absprache mit der Arzneimittelindustrie, wie ein für alle Seiten verträgliches System gestaltet werden kann.
- Ein wirksames Notfallgesetz mit einem zentralen Leitstellenkoordinator: Bevor Patient:innen in Kliniken gehen, müssen die Wege besser gebahnt werden. Ein Leitstellenkoordinator wird der zentrale Dreh- und Angelpunkt und weist Patient:innen zum richtigen Angebot. Das ist nicht immer der Rettungswagen, sondern kann auch eine Terminbuchung beim Haus- oder Facharzt sein. Die Abfrage sollte KI-gestützt nach festen Regeln erfolgen. Dies steigert nachweislich Qualität und Sicherheit.
- Ein Gesundheitsicherstellungsgesetz mit klaren Regelungen im NATO Bündnisfall: Es gibt derzeit kein Gesetz, das regelt, wie beispielsweise Verwundete im Bündnisfall verteilt werden sollen. Hierzu – und auch als Teil der Abschreckung – braucht es eine deutlich engere Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und zivilen Krankenhäusern. Ein Teil des Sondervermögens der neuen Bundesregierung sollte hierfür zur Verfügung gestellt werden – auch etwa zum Bau unterirdischer Krankenhausteile.
Prof. Dr. Christian Karagiannidis
Prof. Dr. Christian Karagiannidis ist Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin und Leiter des ECMO-Zentrums Köln-Merheim. Er studierte in Düsseldorf und wurde 2011 auf den ersten Lehrstuhl für Extrakorporale Lungenersatztherapie an der Universität Witten/Herdecke berufen. Von 2020 bis 2022 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. Seit 2021 ist er Mitglied der Fachgruppe COVRIIN am Robert Koch-Institut und Sprecher der Intensivmedizin sowie Mitglied im Sachverständigenrat des Bundeskanzleramtes. Im Jahr 2024 wurde er in das Nachfolgegremium, den Sachverständigenrat Gesundheit und Resilienz, berufen. Außerdem ist er Mitglied der Regierungskommission „Krankenhaus“.